Nur Hexen oder Harry Potter fliegen auf Besenstielen? Von wegen! Vor hundert Jahren gab es in Ostpreußen einen Lehrer, der konnte das auch. Über viele Stunden blieb er damit in der Luft. Zugegeben: Der „Besenstiel“ oder die „Besenstielkiste“, wie der heute legendäre Flugapparat genannt wurde, war ein echtes Flugzeug – aber ein sehr spezielles. Sein Konstrukteur und Pilot hieß Ferdinand Schulz.
Der Ostpreuße war Flieger im 1. Weltkrieg gewesen. Die Fliegerei hatte ihn auch danach nicht mehr losgelassen. Und weil Deutschland nach dem Krieg keinen Motorflug mehr betreiben durfte, baute Schulz jetzt halt Flugzeuge ohne Motor. Zunächst waren es zwei Hängegleiter im Lilienthal-Stil, die FS 1 und die FS 2. Mit der ersten Maschine kam Schulz kaum vom Boden los, mit der zweiten sehr wohl. Mit seinem dritten Flugzeug, der FS 3, wagte er als Konstrukteur mal etwas ganz anderes – und damit sollte ihm der große Wurf gelingen.
Schulz lebte und arbeitete in Waldensee, einem kleinen Dorf in Ostpreußen. Er war nicht verheiratet und hatte keine Kinder – so konnte er sich in den Feierabendstunden bis spät in die Nacht hinein dem Bau seiner Flugapparate widmen. Das änderte sich auch nicht, als er 1922 nach Allenstein versetzt wurde. Viel Geld verdiente er als Dorflehrer nicht. So sah er sich gezwungen, beim Bau seiner Maschinen auf einfachste und billigste Mittel zurückzugreifen – was der Besenstielkiste tatsächlich auch anzusehen war.
Der Name Besenstielkiste hatte eine Bedeutung
Die FS 3 – den Namen Besenstiel(kiste) bekam das Flugzeug erst später – war ein verspannter Hochdecker auf einer einzelnen Kufe. Der schmale und offene Rumpf war aus wenigen Fichtenrundhölzern gebaut, die sich Schulz aus dem Wald seines Schwagers hatte holen dürfen. Die meisten Beschläge fertigte er aus dem leichten Blech von Konservendosen selber an, Klavierseiten wurden zu Spanndrähten. In Ermangelung von Kaltleim verwendete Schulz gummiertes Wickelband, die Tragflächen bespannte er mit Nesselstoff, den er mit einer Mischung aus Wasserglas und Kalkfarbe einstrich.
Die beiden von der Flügelnase bis zur Pilotennase herabhängenden Steuerknüppel bestanden aus Besenstielen – sie gaben dem Flugzeug später seinen Spitznamen. Ein Seitensteuer hatte die FS 3 nicht – mit Hilfe der beiden Steuerknüppel wurden die beiden Verwindungsklappen betätigt, die an den Enden der Tragflächen angebracht waren. Je nach Ausschlag wirkten sie entweder als Seiten- oder als Querruder. Mit Rücksicht auf ein möglichst geringes Eigengewicht der Maschine war selbst der Pilotensitz auf ein Minimum reduziert worden: Ein Brett, kaum doppelt so groß wie der Deckel einer Zigarrenkiste, musste reichen. Seine Füße musste der Pilot hintereinander auf die schmale Kufe des Fluggerätes stellen.
Voller Hoffnung reiste Ferdinand Schulz 1923 mit der FS 3 in die sommerliche Rhön. Dass die anderen Flieger auf der Wasserkuppe seine zerbrechlich und filigran wirkende Konstruktion belächelten, störte ihn nicht so sehr. Dass aber auch die Technische Kommission (TeKo) ihre Zweifel an der Flugtauglichkeit seiner Maschine hatte und sie deshalb nicht für den Wettbewerb zuließ, machte ihn sehr unglücklich. Trotzig startete Schulz außer Konkurrenz, verschaffte sich mit einigen gelungenen Flügen den Respekt zahlreicher Konstrukteure und Piloten – und erhielt prompt einen spontan ausgelobten Sonderpreis. Nun hatte man den Namen Ferdinand Schulz auf dem Schirm. Immerhin.
Deutscher Rekord im Dauerflug
Seine ganz große Stunde sollte dann knapp ein Jahr später schlagen, beim 2. Küstensegelflug-Wettbewerb in Rossitten an der Kurischen Nehrung (die er selbst als Segelfluggebiet entdeckt hatte): In aller Frühe und bei empfindlichen Temperaturen ließ Ferdinand Schulz seinen Besenstiel startklar machen, entschwand damit in den Morgenhimmel und flog im Hangwind der Dünen hin und her, hin und her, hin und her. Nach gut drei Stunden war der deutsche Rekord im Dauerflug geknackt. Doch Ferdinand Schulz hatte noch lange nicht genug. Er flog und flog und flog. Trotz eisiger Kälte und trotz der unbequemen Haltung im Cockpit hielt es ihn fünf weitere Stunden in der Luft. Nach acht Stunden und 42 Minuten setzte er die Maschine völlig entkräftet und durchgefroren in den Sand. Die ganze Welt schaute nun auf Rossitten und auf Ferdinand Schulz. Und auf die Besenstielkiste. Pilot und Flugzeug wurden gleichermaßen berühmt.
Ferdinand Schulz hatte noch fünf weitere Jahre Zeit, an seiner eigenen Legende zu arbeiten (obwohl das dem bescheidenen Mann vermutlich gar nicht wichtig war). Er baute weitere Flugzeuge, stellte weitere Rekorde auf und gewann zahlreiche Preise. Er brachte in seiner Segelflugschule zahllosen jungen Menschen, die ihren Lehrer mitunter geradezu vergötterten, das Fliegen bei. Sein berühmtester Flugschüler war Günther Groenhoff, der später selbst zur Legende wurde – bevor er 1932 abstürzte und starb.
Ferdinand Schulz war da schon nicht mehr Teil dieser Welt: Er war bereits drei Jahre zuvor mit einem Motorflugzeug tödlich verunglückt, weil im Tiefflug eine Tragfläche abmontierte. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet Ferdinand Schulz sterben musste, weil ein „echtes“ Flugzeug im Flug auseinanderbrach – während seine so zerbrechlich wirkende Besenstielkiste vor hundert Jahren flog und flog und flog…
Meiko Haselhorst
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