Die Kinder haben ihren Lieblingsplatz längst gefunden: das große „Fischauge“ hinten rechts im Rumpf, früher mal wichtiger Bestandteil des Aufklärungsflugzeugs. Aber das ist lange her. Heute kann man an dieser Stelle wunderbar seinen Kopf in eine Halbkugel aus Plexiglas stecken und direkt nach unten gucken. Zum Beispiel auf die Kühe. Oder auf die zahllosen Windräder im Paderborner Land. „Wie winzig die sind“, ruft die Sechsjährige.
Die Antonow An-2 ist alles andere als winzig. Manchmal nennt Stephan Ester seinen großen Schatz nur „den Apparat“. Dieser Apparat ist ein ganz besonderes Stück Luftfahrtgeschichte – und Ester hat sich damit einen Flugzeugtraum erfüllt. Seit rund 17 Jahren gehört ihm dieses fast 60 Jahre alte Exemplar des größten einmotorigen Doppeldeckers der Welt. Einst in Kiew als vielseitiger Lastenesel erdacht, dient er dem Vollblut-Flieger Ester heute vor allem zu einem Zweck: seine Freude an der Fliegerei weiterzugeben.
Die Betankung der An-2 ist auch ein Balanceakt. Der Doppeldecker gönnt sich einen ordentlichen Schoppen Treibstoff sowie eine nicht unerhebliche Menge Öl. © Meiko Haselhorst
Der 64-jährige frühere Geschäftsführer eines mittelständischen Unternehmens kann sich ein Leben ohne die Luftfahrt gar nicht vorstellen: „Das Virus hat mich von Kindesbeinen an gepackt. In der Familie gab es Flieger und ich habe schon als Jugendlicher begonnen. Über Modellbau, Drachenfliegen und Segelfliegen ging es immer weiter.“
Längst hat er alle Scheine, die ein Privatpilot haben kann. Im Job lenkte er das Firmenflugzeug immer wieder quer durch Europa. Seit 2024 ist er Privatier, trägt statt Anzug Fliegerklamotten und sagt glücklich: „Ich habe jetzt mein ganzes Leben rund um die Fliegerei aufgebaut.“ Dazu gehören auch der Segelflug und Ausflüge mit seiner „Raab Motorkrähe IV“, dem letzten in Deutschland zugelassenen Motorsegler dieses Typs (AeroBuzz berichtete). Esters doppeltes Glück: Seine Familie ist ebenso flugverrückt wie er, und die gute Karriere lässt das aufwendige Hobby zu.
Die An-2 verfügt über einen mächtigen Sternmotor
Der promovierte Elektrotechniker ist vor allem ein Maschinen-Ästhet. An der An-2 liebt er die für den praktischen Einsatz gestaltete Formgebung, die mächtige 12,40 Meter lange und 18,20 Meter breite Erscheinung und vor allem den 1.000-PS-Sternmotor. „Das ist Technik auf dem Stand des Zweiten Weltkriegs“, sagt der erfahrene Pilot mit 2.400 Flugstunden. „Technik, die im Originalzustand alt ist und bestens gewartet wurde, ist für mich Kunst.“
Im Cockpit der An-2 ist noch viel Handarbeit notwendig. Alles ist sehr robust ausgelegt. © Meiko Haselhorst
Kunst erfordert mitunter auch Geduld. Einfach losfliegen ist nicht, mit diesem Schätzchen ukrainischer Ingenieurskunst. Erst mal müssen Airport-Mitarbeiter samt Traktor her, um das 3,4-Tonnen-Gerät aus dem Hangar zu ziehen. Dann ist Handarbeit gefragt: Den Vierblatt-Propeller mit einem Durchmesser von 3,60 Metern dreht Ester erst im Hangar 20 Blatt weit – und dann draußen noch einmal 16 Blatt. Das Öl soll vor dem Start aus den unteren drei Zylindern laufen, zum Auffangen hat er eine Plastikflasche druntergehängt. Luftfahrttechnik muss halt auch praktisch sein.
Die An-2 hat sich in vielen Bereichen bewährt
Praktisch ist auch die Antonow. Ester hat einen Fliegerfreund, der mit einer An-2 bei Aeroflot rund 6.000 Flugstunden im Linienbetrieb in Sibirien geflogen ist. Auf das Flugzeug ist Verlass, heißt es. 18.000 Stück wurden gebaut. Aktuell wird sogar eine Wiederauflage diskutiert. Mit kurzen Pisten, mit Grasbahnen oder mit anderen Unwägbarkeiten hat der Luftfahrt-Dino keine Probleme.
Aufgrund ihrer großen Kabine eignet sich die An-2 für eine Vielzahl von Missionen, vom Passagiertransport über Agrarfliegerei bis hin zum Absetzen von Fallschirmspringern. © Meiko Haselhorst
Wer Esters Startvorbereitungen beobachtet, merkt, wie Fliegerei mit einem Oldtimer über Abheben und Entspannen hinausgeht. Wichtig sind Pflege und Wartung (mindestens einmal jährlich bei LTB Gehling Stadtlohn), aber auch technisches Verständnis und ein gutes Bauchgefühl für die Technik. „Das kann man aber lernen“, sagt der in Brakel aufgewachsene Ester.
Die technische Herausforderung hat den sechsfachen Familienvater auch am Projekt Antonow gereizt. „Ich wollte wissen, ob man als Hobbypilot so ein ernstzunehmendes Flugzeug fliegen kann.“ Vor mehr als 20 Jahren nutzte er in Bielefeld die Chance, sich auf einer An-2 von einem Fluglehrer vier Stunden einweisen zu lassen – und das Feuer war entfacht. „Wenn jemand so ein Flugzeug braucht, dann du“, sagte seine Frau danach. Über Kontakte ergab sich die Chance und Ester kaufte von einem Hamburger seine Antonow.
Die Vergangenheit dieser An-2 ist kaum dokumentiert
Er bekam ein Flugzeug mit Geschichte. Gebaut 1968 in Polen, wurde die Maschine bei der DDR-Fluglinie Interflug registriert. Dort kam sie unter anderem als sogenannte „Bildflugmaschine“ mit Multispektralkamera im Rumpf zum Einsatz. „Weil sie wohl nicht nur für zivile, sondern auch für militärische Aufklärungszwecke genutzt wurde, ist ihre Vergangenheit kaum dokumentiert“, sagt Ester.
Der aktuelle Besitzer liefert mit seinem Schatz nun Aufklärung der anderen Art. Stephan Ester zeigt ab und an Passagieren, was einst die handwerkliche Fliegerei ausgemacht hat. Rund 20 Stunden pro Jahr ist er mit der An-2 in der Luft. Ein Trip mit ihr ist in der Ära von Computern, Instrumentenflug und Autopilot auch eine Zeitreise. Gerade Jugendliche aus seinen Flugvereinen in Höxter, Warburg und Paderborn nimmt er deshalb immer mal mit auf einen Rundflug in seinem blau-weißen „Apparat“. Zuweilen auch Kinder, so wie an diesem Tag.
Die halbkugelförmige Seitenscheibe hat es den Kindern angetan, da sie dort einen Logenplatz am Himmel haben. © Meiko Haselhorst
Bevor der Doppeldecker abheben kann, wird der Motor minutenlang vorgewärmt. Der Antrieb wird bestens gehegt, ein Austausch würde rund 100.000 Euro kosten. Heute werden gebrauchte An-2 für 130.000 Euro im Netz angeboten. Ester hat vor 20 Jahren deutlich weniger gezahlt, sagt er. Trotzdem kommen noch Wartung, Unterstellung, Versicherung und Betriebskosten hinzu. Jede Landung kostet ihn in Paderborn rund 100 Euro. Zehn Jahre will er sich das Hobby noch leisten, sagt er: „Ich denke beim Fliegen nicht ans Geld, sondern an fliegerische Herausforderungen und den Genuss.“
Die Checkliste vor dem Start erledigt der Pilot mit Konzentration, trotz aller Routine. Jede Menge Einstellungen – erst auf dem Vorfeld und dann noch kurz vor der Startfreigabe. Als es losgeht, schwingt sich der Koloss, der neben kleinen und großen Jets am Paderborner Airport ziemlich aus der Zeit gefallen wirkt, bei 90 km/h scheinbar federleicht in die Lüfte. „Ein Doppeldecker hat mehr Auftrieb, darum heben wir schnell ab“, sagt Ester, bevor sich der Flieger über der A44 sanft in eine Linkskurve neigt. Der Motor des „Apparats“ tuckert monoton, das Paderborner Land und seine vielen Kühe und Windräder ziehen unter der Antonow vorbei. Die Kinder kleben noch immer in der Halbkugel.
Meiko Haselhorst
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