Homepage » Aero-Kultur » Der vergessene Rhönpionier

Offiziell war es Bruno Poelke, der 1920 auf der Wasserkuppe den allerersten Hüpfer hinlegte. In Wirklichkeit war es jemand anders. Ohne Peter Riedels Buch „Start in den Wind“ wüsste heute niemand mehr davon.

29.06.2024

Das einzige bekannte Bild aus dem Rhön-Fliegerlager von 1920, auf dem von Lüttwitz zu sehen ist (rechts, mit Zigarette im Mund). Entnommen aus dem Buch Start in den Wind von Peter Riedel.

In diesem komischen Fliegerlager wird ja nicht geflogen“, sprach Ernst Freiherr von Lüttwitz, der als stellvertretender Lagerchef (…) auf der Kuppe geweilt hatte. Nach der letzten Mode gekleidet, mit einem Monokel im Auge, eine Zigarette lässig im Mundwinkel, griff der junge Baron in seine Hosentasche, holte ein Taschenmesser heraus und begann an einer ungehobelten Dachlatte zu schnitzen. „Mensch, Lüttwitz, was haben Sie denn mit den Latten vor?“ Zum Staunen aller hatte Lüttwitz ein ganzes Bündel Dachlatten zu Fuß von Gersfeld heraufgeschleppt. Und eine Rolle Zaundraht dazu. „Ich werde ein Flugzeug bauen und damit fliegen“, war die kurze Antwort.

So beschreibt Peter Riedel die Geschehnisse, die sich im Sommer 1920 im noch arg improvisierten Fliegerlager zum allerersten Rhönwettbewerb auf der Wasserkuppe zutrugen. Gekommen waren einige, manche mit halbfertigen Flugzeugen, andere sogar schon mit fertigen. Geflogen war hingegen auch nach vielen Tagen im Lager noch keiner. Bis besagter Freiherr, eigentlich kein Flieger, die Geduld verlor und selbst aktiv wurde. Ohne Peter Riedels Augenzeugenbericht wüsste heute wohl niemand mehr, was dann passierte:

Ein Fliegerlager ohne richtige Flüge

„Und damit ging er (Ernst Freiherr von Lüttwitz, Anm. der Red.) ins dritte Zelt und bat Eugen von Loessl um eine Säge, eine Zange und einen Hammer. Dann setzte er schweigend seine Arbeit fort. Es dauerte nicht lange, und der freiwillige Lagerhelfer Vogel, Gärtner von Beruf, half dem jungen Baron beim Sägen und Nageln. Seltsame Gebilde nahmen Form an. Am nächsten Tag konnte man die Gerippe als dachförmige Tragflächen erkennen, denen nur noch die Bespannung fehlte. „Lüttwitz, ich glaube, Sie haben zwei rechte Tragflächen gebaut.“ Gustav Lachmann sprach’s mit leiser Stimme, wie es seine Art war, aber das ganze Lager hörte es trotzdem. „Donnerwetter… stimmt! Vogel, machen Sie die Drähte los… dort… und jetzt ziehen wir den ganzen Rahmen in die richtige Form…“. Die Nägel quietschten, aber sie hielten den Rahmen dennoch zusammen. In wenigen Minuten war ein gepfeiltes linkes Tragdeck entstanden.

Am übernächsten Tage bekam man kein Packpapier mehr im Gersfelder Kramladen. Lüttwitz brachte die ganze Rolle ins Lager und bespannte damit seine Tragflächen. „Herr Ursinus, bitte weisen Sie mir ein Zelt für die Montage meines Flugzeugs zu.“ Der Rhönvater konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, aber Lüttwitz erhielt seinen Platz im zweiten Zelt. Dort hörte man ihn und Vogel einander Anweisungen zurufen und Nägel, lange Nägel, in den seine endgültige Form annehmenden Gleiter schlagen.

Am vierten Tage ging der Ruf durchs Lager: „Lüttwitz will raus!“ Alle kamen, um zu helfen. Der Vorhang des Zelttores ging in die Höhe, Tageslicht fiel auf den violett-grauen Vogel, den viele Hände ergriffen und auf Lüttwitz‘ Kommando anhoben. „Jetzt langsam hinaus.“ Was war das? Der Vogel wollte nicht von der Stelle. Man sah genauer hin und griente: Lüttwitz hatte den Vogel um die Zeltmasten herum gebaut. Dort, wo es noch wackelte, hatte er eben noch einen Draht hingezogen, zwischen Flächen, Schwanz und Spannturm. Dabei war´s passiert. Deshalb verlor dieser originelle Konstrukteur aber seine Fassung nicht. „Vogel, dort und dort die Drähte losmachen!“ Und bald stand der graue Segler tatsächlich vor dem Zelt, wo Eugen von Loessl und Gustav Lachmann Beistand leisteten, während Lüttwitz ins Gestänge seines Gleiters kletterte, das Monokel fest im rechten Auge. 

Der Entwurf für den Gleiter von Ernst von Lüttwitz – Fotos vom Flugapparat selbst oder vom Flug scheint es keine zu geben. Entnommen aus dem Buch Start in den Wind von Peter Riedel.

So zogen wir ab in Richtung Westen, gegen den frischen Wind, der graue Wolken dicht über den Gipfel der Wasserkuppe blies. „Ich fühle den Auftrieb. Bitte halten Sie fest!“ Lüttwitz rief es, während er und seine beiden Helfer in den Laufschritt übergingen. Vor uns ging es bergab. Links in der Ferne ragte der Pferdskopf auf. Dort war der steile Westhang. Und plötzlich hob Lüttwitz ab. Loessl und Lachmann hatten eben losgelassen, und schon glitt er davon, ob er wollte oder nicht. Mit rauschender Fahrt flog der Gleiter in den frischen Wind hinaus, Lüttwitz mußte seine langen Beine anziehen, immer höher, denn der Boden kam näher und näher. Ein Brett diente als Reitsitz und dessen hinteres Ende wischte jetzt durchs Gras, aber nur für eine Sekunde. Dann schoß der Vogel durch eine plötzliche Vergrößerung des Anstellwinkels noch einmal himmelwärts und fiel schließlich fast ohne Fahrt nahe einem Hohlweg ins Gras. Es krachte, aber nicht sehr laut. Wir alle rasten den Hang hinab. Ernst Freiherr von Lüttwitz entstieg den Trümmern, das Monokel im Auge, unverletzt. Er war gegen sechzig Meter weit geflogen, in etwa zwölf Sekunden.

Damals haben wir gelacht und den Flug des Einfachstgleiters bald vergessen. Aus heutiger Sicht bewies Lüttwitz eigentlich in überzeugender Form, daß der Mensch schon im Altertum oder Mittelalter das Gleiche hätte schaffen können: einen großen Vogel aus Holz, Papier, Segeltuch oder Seide, aus Sehnen oder dünnen Seilen zu bauen, zusammengehalten von Nägeln aus Bronze oder Eisen. Es fehlte allein das Wissen. Wenn nur einer von jenen, die damals das Sehnen nach Flug verspürten, einen Gleiter mit starren Flügeln gebaut hätte, dann wäre er fähig gewesen, das Lachen der Zuschauer in begeisterten Beifall zu verwandeln. Ein Luftsprung von sechzig Schritten Länge hätte mehr als genügt, ihn als den ersten fliegenden Menschen in die Geschichte eingehen zu lassen. Leider war der mit den Flügeln schlagende Vogel all jenen Unbekannten der Geschichte als das richtige Vorbild erschienen – und so blieb es vorerst beim unerfüllten Menschheitstraum

Warum Rhönvater Oskar Ursinus dieses doch recht bedeutsame Ereignis auf der Wasserkuppe in seinen späteren Berichten im „Flugsport“ unterschlug, dazu kann auch Riedel nur spekulieren: „Vielleicht fürchtete er, unserer Sache dadurch zu schaden“, mutmaßt er abschließend. Immerhin war der Mann mit dem Monokel weder ein „echter“ Flieger, noch ein offizieller Teilnehmer gewesen. Und ausgerechnet ihm sollte nun die Ehre zuteil werden, der erste gewesen zu sein? Nein, dann doch lieber dem damals schon renommierten Bruno Poelke, auch wenn dessen späterer Hüpfer deutlich kürzer war – räumlich und zeitlich.

So blieb es Peter Riedel selbst vorbehalten, dafür zu sorgen, dass er nicht völlig in Vergessenheit geriet, jener Ernst Freiherr von Lüttwitz, der erste Flieger, der beim ersten Rhönwettbewerb im Jahr 1920 auch tatsächlich flog.

Meiko Haselhorst

 

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Meiko Haselhorst wollte als Kind immer Pilot werden. Doch es kam anders: Er wurde Tischler, später Redakteur einer Tageszeitung – und arbeitet heute als freiberuflicher Journalist. Seine immer noch vorhandene Leidenschaft für Flugzege und fürs Fliegen lebt der zweifache Vater zuweilen auf Reisen und an der Tastatur aus.

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