Homepage » Aero-Kultur » Jean-Marie Le Bris: Der Mann mit dem Albatros

Um den französischen Seemann Jean-Marie Le Bris ranken sich viele Geschichten. So soll ihm schon im Jahr 1856 ein erster – und dazu noch ziemlich spektakulärer – Gleitflug gelungen sein.

8.02.2025

Die Inspiration zum Bau seiner fliegenden Barke hatte Le Bris von Albatrossen. © Mikael Rostoux

Blauer Himmel, blaues Meer, frischer Wind und das Rauschen der Brandung. Über dem Kiefernwäldchen am südlichen Ende der malerischen Bucht hängen ein paar Möwen in der Luft und kreischen. Ob die Vögel von Sainte-Anne la Palud an der Westspitze der bretonischen Küste wohl zuweilen noch die uralte Geschichte ihrer Ahnen herausholen? Die über diesen seltsamen, riesigen Vogel, der sich da für einen kurzen Augenblick unter ihresgleichen gemischt haben soll? Über den Mann, der diesen Vogel offenbar steuerte – und über einen weiteren Mann, der ein paar Meter weiter unten hilflos an einem Seil baumelte? Man weiß es nicht. Man weiß ja nicht mal, ob es sich wirklich so zugetragen hat. Aber die Geschichte vom Seemann Jean-Marie Le Bris, dem hier im Jahr 1856 ein beachtlicher Gleitflug gelungen sein soll, hält sich bis heute hartnäckig. Und die technischen Daten zu seinem formschönen Flieger lassen zumindest die Vorstellung zu, dass an dieser Geschichte etwas dran ist.

Gesicherte Tatsachen zu Le Bris gibt es durchaus auch: Zum Beispiel, dass er im Jahr 1817 in Concarneau in der Bretagne geboren wurde – und 1872 im unweiten Douarnenez gestorben ist. Dort liegt er auch begraben. Sicher ist auch, dass schon seine Vorfahren zur See fuhren. Er selbst wurde bereits sehr früh ebenfalls Matrose – und später Kapitän. Und obwohl er auf den verschiedensten Schiffen um die ganze Welt segelte (und später dampfte), galt seine noch größere Leidenschaft dem Traum vom Fliegen.

Als Seemann beobachtete er Seevögel

Auf seinen Reisen verbrachte er viel Zeit damit, die Seevögel zu beobachten – vor allem die Albatrosse bei Kap Hoorn hatten es ihm angetan. Er war fasziniert von der offensichtlichen Leichtigkeit, mit der diese großen Vögel ohne einen einzigen Flügelschlag am Himmel kreisten. Als sicher gilt auch, dass er einige dieser Tiere einfing, tötete und ihre großen Flügel im Luftstrom studierte. Das hat Le Bris in seinen Tagebüchern selbst so aufgeschrieben. Das aerodynamische Abheben bezeichnete er nach seinen Beobachtungen als „Aspiration“, was auf Französisch nichts anderes als „Saugen“ bedeutet. Le Bris scheint also früh erkannt zu haben, dass es beim Gleiten weniger um die Luft geht, die von unten in die Flügel bläst, als vielmehr um die, die über die Oberfläche der Flügel streicht.

Der erste Passagier flog unfreiwillig mit

Danach wird die Faktenlage allerdings schon dünn – zumindest vorübergehend. Im Dezember 1856 soll Le Bris mit einem Gleiter namens L’Albatros artificiel („Der künstliche Albatros“) ein Flug am Strand von Sainte-Anne la Palud gelungen sein. Der Gleiter aus Holz und Stoff, der sich tatsächlich eng an den Körperbau und an die Proportionen eines Albatros hielt, soll dabei zunächst auf einem Fahrgestell mit großen hölzernen Rädern geruht haben und dann an einem langen Seil von einem schnell laufenden Pferd gegen den Wind in die Höhe gezogen worden sein (ohne das Fahrgestell). Die Maschine soll dabei eine Höhe von 100 Metern (!) erreicht haben und rund 200 Meter weit geflogen sein. Ein recht abenteuerliches Zahlenverhältnis. Der geplante Fesselflug, so heißt es heute in den meisten Quellen, wurde unabsichtlich zu einem „echten“ Flug, weil der Gleiter so viel Auftrieb entwickelte, dass sich das Seil vom Fahrgestell losriss. Zu allem Überfluss soll sich der Kutscher – im Alltag ein örtlicher Müller – auch noch mit dem Fuß im Schleppseil verheddert haben und ein Stück weit mit in die Höhe gezogen worden sein. Pilot und Flieger sollen dann aber beide sicher gelandet sein. Sollte es wirklich so gelaufen sein, wäre der Fahrer des Karrens nach George Cayleys „Coachman“ schon der zweite Kutscher, der in der Frühgeschichte der Luftfahrt eine wichtige Rolle spielte – diesmal als erster Passagier, wenn auch unfreiwillig.

Etwas später soll Le Bris mit demselben Gleiter (der auch den Beinamen „geflügelte Barke“ erhielt) noch weitere Versuche unternommen haben – unter abgeänderten Startbedingungen in einem großen Steinbruch. Auch hier, so heißt es, habe sich der Albatros zunächst tatsächlich in die Lüfte erhoben. Bei dem schon bald folgenden Absturz sollen allerdings sowohl der Flieger als auch Le Bris‘ Bein zu Bruch gegangen sein.

Inspiration für Illustratoren

Die lebendigen Schilderungen – vor allem die zum spektakulären ersten Flug am Strand – haben viele französische Illustratoren zu sehr schönen Bildern inspiriert. Wer im Internet ein wenig danach sucht, findet sie. Doch wer ist für die Berichterstattung zu diesem Ereignis am Strand überhaupt verantwortlich? Le Bris selbst hat dazu unglücklicherweise nichts hinterlassen. In den regionalen Zeitungen und Blättern der damaligen Zeit ist ebenfalls nichts dazu zu finden. Ein paar angebliche Augenzeugen tauchten zwar etwas später auf – viele ihrer vermeintlichen Beobachtungen widersprachen sich allerdings. Des Rätsels plausible Lösung: Die Geschichte, die sich heute im kollektiven Gedächtnis der geneigten Nachwelt verfestigt hat, wurde – wie so häufig – erst viel später in Umlauf gebracht, und zwar im Jahr 1878, in einem Roman des Schriftstellers Gabriel de La Landelle. Jean-Marie Le Bris war zu diesem Zeitpunkt längst tot.

Die Albatross II, die Le Bris im Auftrag der französischen Marine 1868 gebaut hat. © Pépin fils

Als reine Phantasie sollte man die Sache mit dem Gleitflug am Strand allerdings nicht abtun: Einige Historiker sind nach ihren Recherchen zu dem Schluss gekommen, dass es den Flug sehr wohl gegeben hat, allerdings erst im Jahr 1860 oder 1861. Der Start soll demnach auch nicht direkt am Strand, sondern auf einer vorgelagerten Straße stattgefunden haben. Aber man weiß es nicht wirklich.

Was man ebenfalls nicht weiß: Wann und wie hat es der alles andere als gut betuchte Le Bris bewerkstelligt, seinen Gleiter zu bauen? Dass es dieses Flugzeug gegeben hat, gilt allerdings als unbestritten. Es gibt detaillierte Zeichnungen aus der Hand des Erfinders, die im Grunde all das zeigen, was ein Flugzeug zum Fliegen braucht. Das Gewicht, die Proportionen, das Profil der Flügel – fast alles an diesem künstlichen Albatros macht Sinn. „Einzig der kurze Rumpf, das Fehlen einer vertikalen Fläche am Leitwerk und der hohe Schwerpunkt durch den im Flugzeug stehenden Piloten sind etwas beunruhigend“, heißt es in einem der vielen französischen Texte, die sich mit dem Flugpionier Le Bris befassen. Letzterer reichte besagte Zeichnung im Frühjahr 1857 sogar ein, um sich eine selbst erfundene Steuerung patentieren zu lassen: Mithilfe von Hebeln, Schnüren und zahlreichen Flaschenzügen konnte der Pilot des „künstlichen Albatros“ den Anstellwinkel der Flügel verändern. Und Le Bris‘ Gesuch war sogar erfolgreich.

Die Fliegerkarriere des Jean-Marie Le Bris war damit noch nicht beendet. Es dauerte mehr als ein Jahrzehnt, bis er sich – diesmal mit finanzieller Unterstützung der Marine – wieder mit einem neuen Projekt befasste: dem „Albatros II“. Auch diesen Gleiter hat es ganz zweifellos gegeben – es handelt sich sogar um das weltweit erste fotografierte Flugzeug in der Geschichte der Luftfahrt, wenn auch nur am Boden. Die Aufnahme von 1868 zeigt die Maschine – wieder mit einem monströs anmutenden Fahrgestell unter dem bootsähnlichen Rumpf – vor einem Hangar in Brest. Im Flugzeug steht Kapitän Jean-Marie Le Bris, zwei Matrosen halten den Albatros links und rechts an den Flügelspitzen im Gleichgewicht. Der Vogel war fast ein Duplikat seines Vorgängers von 1856 – mit der Ausnahme, dass er etwas leichter war und ein Gewicht trug, das ihm einen tieferen Schwerpunkt und somit mehr Stabilität im Flug verleihen sollte.

Die Öffentlichkeit war enttäuscht

Ob es mit dieser Maschine tatsächlich zu bemannten Flügen kam, ist nicht zweifelsfrei belegt. Vereinzelt ist von kleineren Hüpfern die Rede, einer davon angeblich unter den Augen der Öffentlichkeit, bei starkem Wind auf einem Deich in Brest. Die gekommenen Menschen sollen allerdings enttäuscht wieder nach Hause gegangen sein. Historisch belegt ist dieses Ereignis leider nicht. Einig sind sich die verschiedenen Quellen aber dahingehend, dass es mit dem Albatros II zahlreiche unbemannte Flüge gab. Und auch das Ende des Flugzeugs ist an einer Stelle dokumentiert: „Etwa dreißig Matrosen vom Schulschiff Borda waren vor Ort, um das Gerät mit einem Seil in den Wind zu ziehen. Aber Le Bris durfte nicht an Bord, was den Einsatz seines ausgeklügelten Steuersystems verhinderte – der Albatros stürzte ab und wurde zerstört!“

Das war das Ende aller fliegerischen Aktivitäten des Jean-Marie Le Bris. Und sein eigenes sollte schon recht bald kommen: Keine vier Jahre später, im Februar 1872, starb er im Beisein von Frau und Kindern an den Folgen eines Angriffs auf seine Person. Le Bris hatte in den letzten Monaten seines Lebens nicht mehr als Seemann, sondern als Polizist gearbeitet. In dieser Funktion war er in eine Auseinandersetzung zweier rivalisierender Banden geraten und hatte versucht, ein paar Streithähne voneinander zu trennen. Das wurde ihm zum Verhängnis, die Gewalt richtete sich nun leider gegen ihn. Ein recht tragisches Ende, das allerdings ein wenig zum gesamten Leben des Flugpioniers passt: Abgesehen von der permanenten Geldknappheit, der immer wieder neuen Suche nach Arbeit auf Schiffen und den Rückschlägen mit seinen Flugapparaten, zermürbte ihn über die Jahre auch der Tod seiner ersten Ehefrau und diverser Kinder.

Im Museum in Le Bourget ist ein Nachbau der Albatros von Le Bris in einer Halle mit Lilienthal, den Brüdern Wright und den Gebrüdern Montgolfier ausgestellt. © Musée de l’air et de l’espace

Heute steht Jean-Marie Le Bris in seiner Heimat fast in einer Reihe mit all den anderen hochgeachteten französischen Flugpionieren à la Montgolfier, Santos-Dumont oder Blériot. Nachbauten seiner „geflügelten Barke“ hat es einige gegeben. Einer davon hängt im berühmten Luft- und Raumfahrtmuseum am Pariser Flughafen Le Bourget – zwischen einer Miniatur des prächtigen ersten Heißluftballons besagter Gebrüder und einem Hängegleiter von Otto Lilienthal. Mitunter wurden die künstlichen Albatrosse für schöne Bilder sogar an den mutmaßlichen Originalschauplatz am Strand von Sainte-Anne la Palud gekarrt. Stilecht auf großen Holzrädern – und mit Protagonisten in zeitgenössischer Kleidung. Berichte von Flügen mit diesen nachgebauten Gleitern sind allerdings keine zu finden, weder bemannt noch unbemannt.

Ob er nun geflogen ist oder nicht: Jean-Marie Le Bris hat seinerzeit Beachtliches herausgefunden und gebaut – und damit einen exponierten Platz in der Chronologie der Luftfahrt verdient. Die schöne Geschichte aus dem Jahr 1856 – ob wahr oder unwahr – ist nicht mehr aus den Köpfen zu kriegen. Wozu auch? Zumindest ihr Unterhaltungswert ist unbestritten. Und ja, wahrscheinlich unterhalten sich auch die Möwen zuweilen noch über das, was da zur Zeit ihrer Urahnen passiert sein soll, am Strand von Saint-Anne la Palud. Zwischen dem blauen Himmel und dem blauen Meer. Im Wind. Hoch über der rauschenden Brandung.

Meiko Haselhorst

 

P.S.: Die Albatros-II-Aufnahme von 1868 war unserem Autoren Meiko Haselhorst schon als Kind bekannt. Damals fragte er sich allerdings, wie es denn bitteschön sein könne, dass ein Flugzeug mit einem so übergroßen (und vermutlich auch sehr schwerem) Fahrwerk abhebt!? Offenbar hat er die Geschichte zum Bild seinerzeit nicht allzu aufmerksam gelesen – aber er war ja auch erst zehn Jahre alt. Erst viel später verstand er, dass das Fahrwerk der Albatros II nach dem Start am Boden blieb.

 

 

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Über Meiko Haselhorst

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Meiko Haselhorst (Jahrgang 1974) wollte als Kind immer Pilot werden. Doch es kam anders: Er wurde Tischler, später Redakteur einer Tageszeitung – und arbeitet heute als freiberuflicher Journalist. Seine immer noch vorhandene Leidenschaft für Flugzeuge und fürs Fliegen lebt der Vater von zwei Töchtern nun auf Reisen, in der Literatur und an der Tastatur aus. Der Pilotentraum ist aber noch nicht ganz ausgeträumt....

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