Charles Lindbergh ist „der Atlantikflieger“. Das ist so – und wird wohl bis in alle Ewigkeit so bleiben. Richtig ist: Charles Lindbergh war der erste, der von New York nach Paris geflogen ist. Und er war der erste, der den großen Ozean allein in einem Flugzeug überquerte und noch dazu in einem einmotorigen Flugzeug. Im Team hatten das vor ihm bereits 66 Menschen geschafft – die aber allesamt nicht annähernd so berühmt wurden wie der medial gepushte Lindbergh im Jahr 1927. Die allerersten schafften das Kunststück der Atlantiküberquerung bereits acht Jahre vor dem Amerikaner. Sie waren Briten und hießen John Alcock und Arthur Whitten Brown.
15. Juni 1919: Offiziere der Funkstation in Clifden sehen zwei Notraketen aus dem Sumpf vor ihnen aufsteigen. Sie laufen über das irische Moor und kommen bei einem ziemlich ramponierten Flugzeug an, aus dem gerade zwei Piloten klettern. „Jemand verletzt?“ – „Nein.“ – „Woher kommen Sie?“ – „Aus Amerika.“ Herzliches Gelächter. Doch die Piloten beharren darauf: Sie kämen direkt aus St. John’s, Neufundland, sagen sie. Sie seien soeben non-stop über den Atlantik geflogen, seien Teilnehmer des Daily-Mail-Wettbewerbs und hätten auch noch einen ganzen Postsack aus St. John’s im Gepäck. Da lachen die Offiziere nicht mehr.
Der Flug endete mit einem Kopfstand
Vor ihnen standen damals John Alcock und Arthur Whitten Brown, die ersten Menschen in der Geschichte der Luftfahrt, die den Atlantik ohne Zwischenstop überflogen. Das Heck ihres Flugzeugs stand einige Meter über dem Boden fast senkrecht in der Luft, Propeller und Bug hatten sich in die weiche Erde des Derrygimlagh-Moors gebohrt. Alcock und Brown hatten zuvor ziemlich genau 16 Stunden und 28 Minuten in dem umgebauten Weltkriegsbomber gesessen. Die Vickers Vimy trug jetzt statt Munition einige zusätzliche Tanks, die rund 4.000 Liter Treibstoff fassten. Auch das Cockpit war umgebaut worden. Alcock war der Pilot, Brown der Navigator.
Begonnen hatte das Abenteuer bereits ein Jahr zuvor mit einem Aufruf der englischen Tageszeitung „Daily Mail“: 10.000 Pfund hatte die Zeitung für diejenigen versprochen, die „als erste den Atlantik in einem Flugzeug von jedem beliebigen Punkt in den USA, Kanada oder Neufundland nach Großbritannien oder Irland in maximal 72 Stunden überfliegen“. Nur zwölf Monate später warteten im neufundländischen St. John’s gleich vier Teams auf einmal auf den passenden Moment zum Abflug. Geografisch gesehen war der kleine Ort wohl eine gute Wahl für den Start – die kürzeste Strecke über den Atlantik führt schließlich von Neufundland nach Irland: 3.111 Kilometer. Vor Ort aber mussten die Mannschaften der Hersteller Martinsdye, Handley Page, Sopwith und Vickers feststellen, dass St. John’s alles andere als ideal war: Rund herum gab es nichts als Hügel und Wälder – und dichten Nebel. Alcock und Brown fanden schließlich ein Gelände bei Monday’s Pool. 30 Männer rückten dort mit Schaufel und Spaten an, um eine einigermaßen passable Piste anzulegen. 274 Meter maß die Startbahn am Ende – nicht ein Meter zu viel, wie sich beim Start herausstellen sollte.
Die Wettbewerber landeten im Atlantik
Wenige Tage zuvor hatte die „New York Times“ noch geschrieben, sie würde am liebsten eine „gerichtliche Verfügung gegen den Flug über den Atlantik erwirken, allein das Gesetz gegen einen Selbstmordversuch ist technisch nicht anwendbar“. Ungeachtet dieser Warnung und des schlechten Wetters ging das Sopwith-Team zuerst in die Luft. Harry Hawker und sein Navigator Kenneth MacKenzie-Grieve stürzten jedoch nach etwa zwei Dritteln der Strecke in den Atlantik. Immerhin konnten sie gerettet werden.
Am 14. Juni schließlich stiegen Alcock und Brown in ihren Flieger. Sie trugen beheizte Unterwäsche, um in ihrem offenen Cockpit nicht zu erfrieren. An Bord: Sandwiches, Schokolade, Malzmilch, nautische Navigationsinstrumente, ein Logbuch, der Postsack mit 300 Briefen und zwei Stoffkatzen. Die Bahn gab es nicht anders her, die Vimy musste bergauf starten. Als sie auf den letzten Metern endlich abhob, stieg sie wegen ihrer enormen Tanklast nicht annähernd so schnell wie erhofft. Brown hielt mehrmals die Luft an, weil er fürchtete, das „Fahrwerk würde ein Dach oder Baumspitzen streifen“. Als die Vimy in 366 Metern Höhe die Küstenlinie überflog, war zumindest diese erste Hürde glücklich genommen. Dafür hatten Alcock und Brown schon sehr bald ein anderes Problem: Nach etwa einer Stunde Flugzeit zog dichter Nebel auf. Brown, der für die Navigation darauf angewiesen war, Sonne, Meer und Horizont zu sehen, konnte die Position des Flugzeuges kaum noch bestimmen. Zeitgleich fiel das Funkgerät aus. Als kurz darauf auch noch ein Stück des rechten Abgasrohres abriss, ratterte der Motor für den Rest des Fluges „wie ein Maschinengewehr“. Um sich noch einigermaßen zu verständigen, schrieb Brown Mitteilungen auf kleine Zettel und reichte sie dem Piloten.
Weil der Nebel nicht verschwand, steuerte Alcock die Maschine schließlich in höhere Lagen – in der Hoffnung, dort zumindest den Sonnenstand erkennen zu können. Aber auf die Nebelschicht folgte eine Wolkenschicht. Und auf die erste Wolkenschicht eine zweite. Ab 22.00 Uhr war es stockfinster. Erst fünf Stunden später wurde es allmählich wieder hell, dafür flog die Vimy jetzt in eine Nebelbank, die so dicht war, dass Alcock und Brown nicht einmal mehr die Flügelspitzen ihres Flugzeuges sehen konnten. Sie verloren jegliches Gefühl für Balance, Alcock die Kontrolle über das Flugzeug. Die Vimy trudelte in einer Spirale abwärts. Wenige hundert Meter über dem schäumenden Altantik fiel sie aus den Wolken, Alcock fand durch einen Blick auf den Horizont seine Orientierung wieder und fing die Maschine gerade noch ab. Brown schrieb später, er habe die Wellen bereits rauschen gehört. Navigator Brown war es auch, dem die undankbarste (wenngleich heldenhafteste) Aufgabe zukam: Er musste durch eine Klappe im Rumpf auf die unterere Tragfläche klettern, sich zwischen Drähten und Verstrebungen – teils kriechend – bis zum Motor vorarbeiten, um das Eis dort abzuschlagen, und das gleich mehrfach.
Aus dem Nebel tauchte Irland auf
Um 8.15 Uhr am Morgen des 15. Juni 1919 sah Alcock endlich Land. Irland. Zehn Minuten später überflog die Vimy die Küstenlinie. Die tollkühnen Flieger beschlossen, wegen des noch immer dichten Nebels so schnell wie möglich zu landen. Die beste Stelle dafür schien ein ebener Streifen nahe der Funkstation von Clifden zu sein. Brown beschrieb die Landung: „Die Maschine sank behutsam, die Räder berührten die Erde und sie begann, gleichmäßig über die Oberfläche zu rollen. Dann, so langsam, dass man es anfangs gar nicht merkte, kippte die Nase der Vimy nach vorne, während das Heck sich hob. Plötzlich stoppte das Flugzeug mit einem unangenehmen Quietschen, kippte nach vorne, schüttelte sich und blieb schließlich schräg stehen, mit der Nase im Boden, als würde es versuchen, einen Kopfstand zu machen.“ Alcock und Brown krochen aus dem Wrack und schossen ihre Raketen ab. Sie hatten es geschafft.
Nach ihrem Atlantikflug arbeitete Brown als Ingenieur für Vickers, Alcock kündigte an, bis ans Ende seiner Tage fliegen zu wollen. Dabei dachte er wohl kaum daran, dass dieser Tag schon bald kommen sollte: Am 18. Dezember 1919 startete er allein und bei Nebel mit einer Vickers Viking, um sie zu einer Flugschau nach Paris zu überführen. Er kam nur bis Rouen. Das Flugzeug stürzte in einen Acker, Alcock starb kurz darauf im Haus eines Bauern. Sein Kompagnon Whitten Brown lebte deutlich länger – und flog im Sommer 1946, zwei Jahre vor seinem Tod, noch einmal über den Atlantik. Aber es gefiel ihm nicht sonderlich: „Sie haben dem Fliegen den ganzen Spaß genommen“, erklärte er anschließend. „Es ist, als säße man in seinem eigenen Salon.“
John Alcock und Arthur Whitten Brown durften sich nach ihrer Heldentat beide „Sir“ nennen – aber „der Atlantikflieger“ bleibt vermutlich für immer ein anderer…
Meiko Haselhorst
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