Homepage » Aero-Kultur » Melchior Bauer – es fehlten nur ein paar Taler

Melchior Bauer – es fehlten nur ein paar Taler

Hätte man Melchior Bauer im Jahr 1765 etwas Geld gegeben, wäre er heute ein berühmter Mann - vielleicht. So aber ist der deutsche Flugpionier (fast) völlig in Vergessenheit geraten.

4.03.2023

Der Entwurf des Himmelswagens von Melchior Bauer verfügte schon über wichtige Elemente späterer Flugzeuge. © Meiko Haselhorst

Eigentlich ein super Tag zum Fliegen: Der Himmel ist blau, nur hier und da ist ein Wölkchen zu sehen. Und es ist fast windstill. Trotzdem ist nicht viel los am Flugplatz Altenburg-Nobitz, rund 40 Kilometer südlich von Leipzig. Nach einiger Zeit rollt dann aber doch mal eine Cessna 172 zur zweieinhalb Kilometer langen Piste – und hebt nach kurzem Anlauf ab. Sollte er irgendwo hier herumschwirren, der Geist von Melchior Bauer, dann sähe er wohl mit einer gewissen Genugtuung auf den kleinen Flieger. „Hab ich’s doch gewusst“, würde er mit einem Lächeln im Gesicht sagen. „Der Mensch kann fliegen!“ Wollte ihm damals leider keiner glauben. „Damals“, das waren die Jahre 1763 bis 1765. Melchior Bauer aus der Ortschaft Lehnitzsch, nur ein paar Landstraßen vom heutigen Flugplatz entfernt, hatte eine „Flugzeughandschrift“ verfasst, erstaunliche Konstruktionspläne für einen „Himmelswagen“ gemacht – und war jetzt auf der Suche nach Geldgebern.

Flugpionier Melchior Bauer

Aber der Reihe nach: Melchior Bauer wurde am 19. Oktober 1733 in Lehnitzsch bei Altenburg geboren, als Sohn des Handfronbauern Hans Bauer und dessen Ehefrau Maria. Zu dieser Zeit zählte der zum Herzogtum Sachsen-Gotha-Altenburg gehörende Ort etwa 50 Einwohner. Obgleich Bauer dort in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs, besuchte er ganz offenbar die Schule, danach war er aber nur als Hilfskraft bei seinen Eltern tätig. In seinen Mußestunden studierte er die Bibel. Seinen schriftlichen Hinterlassenschaften ist zu entnehmen, dass ihn dabei insbesondere jene Passagen beeindruckten, die den Menschen in ferneren Zeiten die Fähigkeit zum Fliegen voraussagten. Die Schilderungen erweckten in ihm die Vorstellung von einem „Himmelswagen“, den er anfertigen wollte. Der Bau – der Pionier war vorausschauend – sollte in einem Haus auf einem hohen Berg stattfinden.

Seine Pläne sind in der „Flugzeughandschrift“, die es seit 1982 auch als Buch gibt, in allen Einzelheiten dargelegt, angereichert mit entsprechenden Konstruktionszeichnungen – und sie zeugen nicht nur von einem hohen technischen Verständnis, sondern auch davon, dass Bauer den wenigen, die sich in vor-lilienthalscher Zeit ernsthaft mit der Frage der Fliegerei befassten, weit voraus war. So plante er seinen Himmelswagen nicht etwa – wie fast alle anderen – als Flügelschlagapparat, sondern als Gleiter mit geraden, starren und durchgehenden Tragflächen aus Nadelholz, angeordnet in leichter V-Stellung, bespannt mit gewirkter Seide. Die Flächen bezeichnete er als „Himmel“. Letzterer sollte an zwei „Himmelssäulen“ befestigt sein, die wie die Spanntürme späterer Flugzeuge über den Tragflächen emporragten. Die Himmelssäulen waren über zahlreiche dünne Messingdrähte mit den Tragflächen verbunden.

Der „Himmel“, so Bauers Idee, sollte den von einem Berg herabrollenden und mit vier Rädern versehenen Flugwagen bei Erreichen der nötigen Fahrtgeschwindigkeit vom Boden in die Luft heben – was mit Blick auf die von ihm errechnete Größe der Tragflächen und auf die leichte Bauart des gesamten Apparates nicht gänzlich abwegig war. Bauer erdachte auch eine Art Steuer- und Fortbewegungshilfe in Form von weiteren Flügelpaaren, die unterhalb des „Himmels“ angebracht waren und vom stehenden Piloten bedient werden konnten. Selbst eine Art Leitwerk ist im hinteren Bereich zu erkennen. Bauer war außerdem davon überzeugt, dass sein Wagen in der Luft nicht würde umkippen können, weil er oben bedeutend leichter war als unten: Fahrgestell und Schwerpunkt des Fliegers befanden sich ziemlich tief unter der Tragfläche.

Auf der Suche nach finanzieller Unterstützung

Melchior Bauers Pläne hatten Hand und Fuß, aber auch einen Haken: Er war völlig mittellos und brauchte zur Durchführung finanzielle Hilfe. Nachdem der Siebenjährige Krieg beendet war, sah er seine Zeit gekommen. Im Frühjahr 1763 reiste er zunächst nach London, um den damals regierenden König George III. um Geld für den Bau seines Flugapparates zu bitten. Aber der um Abfassung des betreffenden Gesuches angesprochene englische Memorialschreiber weigerte sich, seinem Herrn „solche Narrheit zu unterbreiten“. Daraufhin wandte sich Melchior Bauer noch im gleichen Jahr an den preußischen Königshof in Potsdam. In der Annahme, dass auch dort niemand zur Abfassung seines Gesuchs bereit sei, brachte er sein Anliegen selbst zu Papier, jedoch ohne die zur Veranschaulichung dienenden Zeichnungen. Dieses Gesuch wurde zwar von Kriegsrat Cöper dem preußischen König Friedrich II. übergeben, verfehlte aber ebenfalls das erhoffte Ziel.

Nach diesen vergeblichen Bemühungen wurde der Erfinder bescheidener: Jetzt wollte er für die Tragflächen Papier statt Seide benutzen (die Rhön-Pioniere lassen grüßen), um die Herstellungskosten auf „höchstens zehn Taler“ zu senken. Den Großteil der Kosten hätte wohl das für den Bau benötigte Haus verschlungen, das etwa neun Meter lang, knapp fünf Meter breit und gut drei Meter hoch sein sollte, „ohne eine Säule im Innern und auf einem hohen Berg stehend“, wie Melchior Bauer immer wieder betonte. Er unternahm einen letzten Versuch und fragte nach finanzieller Unterstützung beim Grafen Heinrich XI. von Reuß-Greiz. In der heute vorliegenden „Flugzeughandschrift“, die er dem Grafen präsentieren ließ, ist kein Datum vermerkt – man geht aber davon aus, dass diese Endfassung im Jahr 1765 entstanden ist.

Die Bauersche Eingabe beim damaligen Landesherrn blieb unregistriert – was sehr dafür spricht, dass auch der Graf kein Geld für Bauers Pläne herausrücken wollte. Der verhinderte Flieger war vermutlich schwer enttäuscht. Womöglich legte er seine Pläne für immer ad acta. 1770 – so viel ist sicher – verließ er seine Heimat mit unbekanntem Ziel. Wie es mit seinem Leben weiterging (und wie, wann und wo er letztlich gestorben ist), das weiß heute niemand mehr. Seine Flugzeughandschrift tauchte nach rund 150-jährigem Dornröschenschlaf erst im Jahr 1921 wieder auf – unter einem Stapel unverzeichneter Akten im Oberen Schloss von Greiz, zu jener Zeit das „Reußische Staatsarchiv Greiz“.

Die Flugzeughandschrift des Melchior Bauer als Buch. © Meiko Haselhorst

Glücklicherweise war sich Bauers Nachwelt sofort der Bedeutung dieses Funds bewusst. Und die Fachwelt staunte (und staunt noch heute) über den technisch fortgeschrittenen Entwurf, in dem sich von den großen und starren Tragflächen, über die Spanntürme („Himmelssäulen“) bis hin zu Leit- und Fahrwerk bereits so viele Facetten späterer Flugzeuge entdecken lassen, dass man es kaum glauben mag – und das alles gut 120 Jahre vor Otto Lilienthal.

Ein Modell und eine Sackgasse – das war’s

„Das Einzige, was dem Flugzeug fehlte, war das richtige Tragflächenprofil“, sagt Frank Modaleck. „Hätte man Melchior Bauer das Geld gegeben. . . wer weiß, ob er das bei seiner technischen Begabung nicht auch noch herausgefunden hätte.“ Modaleck war viele Jahre Vorsitzender des Vereins „Flugwelt Altenburg-Nobitz“, der in einem Nebengebäude des Altenburger Flugplatzes unter zahllosen weiteren Exponaten auch ein Modell von Melchior Bauers Himmelswagen präsentiert – die Konstruktionspläne gab es ja. „Wir hätten den Flieger gerne im Maßstab eins zu eins gebaut. Und wir würden das auch heute noch gerne tun – aber dafür bräuchten wir entsprechende Räumlichkeiten“, erklärt der 73-Jährige. Hallen gibt es rund um den alten Flugplatz genügend, aber entweder sind sie besetzt oder für den Bau eines Flugzeugs ungeeignet. „Wir wollen ja nicht, dass die Schwalben alles vollscheißen“, sagt Modaleck. Das hätte Melchior Bauer auch nicht verdient. Und so reichte es bislang halt nur zu einer Mini-Variante in einer kleinen Vitrine auf dem Museumsflur.

In der „Ortslage“ Lehnitzsch, dem Geburtsort des Pioniers, in dem auch 250 Jahre nach Melchior Bauer nur rund 70 Menschen leben, gibt es eine nach ihm benannte Sackgasse – ein Schelm, wer Böses dabei denkt. „Den kennt hier in der Straße jeder – man ist auch ein bisschen stolz auf ihn“, sagt ein älterer Anwohner, der sich auf seinem Hof an einer Regentonne zu schaffen macht. „Wahrscheinlich hat er dort drüben gewohnt, man weiß es aber nicht genau“, sagt er und zeigt zwischen zwei Häuser hindurch auf ein Dach. „Einmal haben wir hier sogar ein Melchior-Bauer-Fest gefeiert“, sagt er noch. Dann muss er sich wieder um seine Regentonne kümmern.

Und am Flugplatz selber? Der Tower ist mit bunten Motiven übersät – ein echter Hingucker. Melchior Bauer und sein Flugapparat sind aber nicht darauf zu entdecken. Und noch einmal kommt ein älterer Herr des Weges. „Hier ist nicht mehr viel los“, sagt er. „Früher war das mal anders.“ Früher, da habe der Flugplatz (eröffnet im Jahr 1913) eine ziemlich große Bedeutung gehabt. Erst für die Pioniere, dann für die Nazis, dann für die Sowjets, schließlich für Ryanair & Co. „Da konnte man täglich nach London fliegen. Und nach Mallorca“, sagt der Mann. „Aber das ist jetzt alles vorbei. Das haben die Politiker verbockt.“ Melchior Bauer? Nein, der Name sage ihm nichts.

Das haben dann wohl auch die Politiker verbockt. Die von damals. Wegen ein paar läppischer Taler. Vielleicht..

Meiko Haselhorst

Folgen Sie uns auf Twitter
Liken Sie uns auf Facebook

Schon gelesen? Weitere Berichte über Luftfahrt-Pioniere:

Ottos Geist schwebt überall

Salomon Idler: Der fliegende Schuster

Legendäres aus Emmendingen

Über Meiko Haselhorst

zum Aerobuzz.de
Meiko Haselhorst wollte als Kind immer Pilot werden. Doch es kam anders: Er wurde Tischler, später Redakteur einer Tageszeitung – und arbeitet heute als freiberuflicher Journalist. Seine immer noch vorhandene Leidenschaft für Flugzege und fürs Fliegen lebt der zweifache Vater zuweilen auf Reisen und an der Tastatur aus.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.