Ein paar Meter weiter hat er gelegen, nach jenem verhängnisvollen Augusttag 1896. Mit gebrochenem dritten Halswirbel, vielleicht schon nicht mehr so ganz von dieser Welt. Und gleich dort drüben in der Scheune lag sein ramponierter „Flug-Apparat“. Und jetzt, 126 Jahre später, liege ich ziemlich genau zwischen dem „Otto-Zimmer“ und der Scheune und schaue in den Nachthimmel. Ohne Gebrechen, gottlob, aber mit ein bis zwei Gläschen Rotwein zu viel im Kopf. Wer weiß, vielleicht bekomme ich gleich Besuch vom Geist Otto Lilienthals…
Ein paar Stunden zuvor: Mein eigentliches Ziel ist der Flugplatz Bienenfarm in Paulinenaue. Dort möchte ich den Quaxen, einem Verein zur Förderung von historischem Fluggerät, in dem ich seit geraumer Zeit Mitglied bin, beim Ausmotten der alten Maschinen zugucken. Aber wenn ich schon mal im Landkreis Havelland unterwegs bin, so mein Gedanke, schaue ich vorher im Lilienthal-Dorf Stölln vorbei – der Flugpionier war schließlich ein ganz frühes Idol meiner Kindheit.
Auf den Spuren von Otto Lilienthal in Stölln
Der einstige Festsaal der Gaststätte ist jetzt ein Seminarraum. Über dem buddhistischen Altar hängt aber immer noch der Nachbau eines Lilienthals-Gleiters. © Meiko Haselhorst
Ein Besuch im Lilienthal-Centrum ist Pflicht. Ich freue mich über die Weißstörche, die direkt vorm Museum ihren Horst bezogen haben – die großen Vögel waren Lilienthals Studienobjekte und Vorbilder. Selbstverständlich gehe ich auch den Gollenberg hinauf, stelle mich am Aussichtspunkt neben die Lilienthal-Skulptur und schaue – wie einst der Meister höchstpersönlich – weit ins Ländchen Rhinow hinein.
Irgendwo dort unten ist er auch abgestürzt. Und dann schaue ich noch bei „Lady Agnes“ vorbei, jener nach Lilienthals Ehefrau benannten Iljuschin IL-62, die 1989 in einem gewagten Manöver direkt am Gollenberg landete und heute unter anderem als Standesamt dient.
Aber viel wichtiger als all das scheint mir der Besuch einer ganz bestimmten Kneipe zu sein, nämlich des Gasthofs „Zum 1. Flieger“. Wenn Otto Lilienthal am Gollenberg flog – und das tat er zwischen 1893 und 1896 ziemlich oft – bezog er jedes Mal Quartier im damaligen „Gasthof Minna Herms“. Hier schlief er, hier aß er, hier stellte er seine Gleiter unter. Angeblich soll er sogar ein Verhältnis zur damaligen Gastwirtin Minna Herms gehabt haben. Ob das stimmt, sei mal dahingestellt. Fakt ist allerdings, dass der Flugpionier nach seinem Absturz am 9. August 1896 auch die letzte Nacht seines Lebens im Gasthof verbracht hat. Und sein Gleiter hat, wie immer, in der Scheune nebenan geruht. Viele Jahrzehnte später – mittlerweile war man sich der Bedeutung des Flugpioniers bewusst geworden – bekam der Gasthof dann den Namen „Zum 1. Flieger“.
Respekt vor den Leistungen des Flugpioniers
„Den Gasthof gibt’s nicht mehr – ich weiß gar nicht genau, wer oder was da jetzt drin ist“, sagt mir eine Mitarbeiterin des Museums. Ein paar Minuten später weiß ich’s: „Shaolin Tempel Deutschland” prangt in dicken Lettern über der Hofeinfahrt. „Heiliger Otto!“, denke ich. „Ein Shaolin-Tempel? An einem Ort, der eigentlich eher ein Tempel für Lilienthal-Fans aus aller Welt sein sollte!?”
Etwas unentschlossen laufe ich die Straße auf und ab, versuche vergeblich, einen aufschlussreichen Blick durch die Fenster des Hauses zu erhaschen. „Wer weiß, ob die hier nicht schon längst wieder raus sind…”, geht es mir durch den Kopf. Vorsichtig betrete ich die Hofeinfahrt und schaue um die Ecke. „Hallo“, ruft eine junge Frau. Sie stellt sich als Roberta vor. Etwas verlegen stelle auch ich mich vor und erkläre, warum ich mich hier herumdrücke. Die Frau ist alles andere als abweisend. „Du hast Glück. Wir hatten hier gerade ein Tai-Chi-Seminar und ich räume noch ein wenig auf“, erzählt sie. „Da drüben ist die Scheune“, sagt sie und lässt mich einen Blick hineinwerfen. „Im Otto-Zimmer habe ich mich während des Seminars häuslich eingerichtet, da können wir jetzt leider nicht rein.“ Schade. Aber nachvollziehbar.
Dann gehe ich aufs Ganze: „Darf ich vielleicht meinen Campingbus in den Innenhof fahren und die Nacht hier verbringen?“ Ich darf! Und nicht nur das: „Du kannst hier auch Abendbrot mitessen. Mein Vater kommt gleich auch noch, dann können wir zusammen etwas kochen.“ Schnell kaufe ich zwei Flaschen Rotwein.
Etwas später stehe ich mit Roberta und ihrem Vater René in der Küche der Gaststätte und forme Hackbällchen. „In der Küche, in der Minna Herms Bratkartoffeln für Otto Lilienthal gemacht hat!“, rufe ich ziemlich euphorisch und hebe mein erstes Glas Rotwein in die Luft. „Auf Otto und auf Eure Gastfreundschaft!“ Vorm Fenster steht mein Bulli, direkt neben dem Lilienthal’schen „Hangar“.
Die alten Bilder hängen noch im ehemaligen Schankraum des früheren Gasthofes Minna Herms. © Meiko Haselhorst
Zwischen alten Lilienthal-Fotos, Zeichnungen und Zeitungsausschnitten lassen wir uns das Essen und den Rotwein schmecken. Im ehemaligen Festsaal – jetzt der Seminarraum – hängt noch ein Gleiter-Nachbau in Originalgröße unter der Decke, direkt überm buddhistischen Altar. „Das soll alles hängen bleiben“, sagt Roberta.
Dann darf ich doch noch einen Blick ins „Otto-Zimmer“ werfen, in dem sich Lilienthals letztes Nachtlager befand. An der Wand hängt ein Bild von ihm und seiner Frau Agnes. „Auch das bleibt hängen – aus Respekt“, betont Roberta. Vater René hat mittlerweile die Gitarre rausgeholt.
Weitere Hinweise auf die Vergangenheit des Gasthofs
Später durchstöbern wir Scheune, Werkstatt und Keller – und finden noch weitere Hinweise auf die Vergangenheit des Gasthofs, unter anderem ein schweres gusseisernes Schild, das den Ort lange Zeit als „Gasthof zum 1. Flieger“ auswies. „Das kommt nicht in den Müll und wird auch nicht verkauft“, beruhigt mich Roberta. Vielleicht schenke man die Requisiten dereinst dem örtlichen Museum. Der Shaolin Tempel, der seine Zentrale in Berlin hat, könne das tatsächlich tun, erklärt Roberta. Die gGmbH habe die ehemalige Gaststätte nicht etwa gepachtet, sondern gleich gekauft, mit allem Drum und Dran. Und der chinesische Abt, gewissermaßen ihr Chef, habe großen Respekt vor der Vergangenheit des Hauses.
Es hätte also viel schlimmer kommen können, für den einstigen „Gasthof Minna Herms“ respektive „Zum 1. Flieger“. Gut gelaunt will ich mir gegen 23.00 Uhr noch ein wenig die Füße vertreten. Und ehe ich mich versehe, befinde ich mich schon wieder auf dem Weg Richtung Gollenberg. Vorbei am Museum, wo die Störche sich längst schlafen gelegt haben, vorbei an Lady Agnes, deren Silhouette sich nur noch schwach gegen das Dunkel der Nacht abzeichnet. Mit meiner Smartphone-Funzel in der Hand stapfe ich den Hügel hinauf, vernehme hier und da ein Knacken im Unterholz und den Ruf eines Käuzchens – und stehe um kurz vor Mitternacht ein zweites Mal am Aussichtspunkt, diesmal unter einem atemberaubenden Sternenhimmel. Ein Airliner durchkreuzt blinkend den „Großen Wagen“, an einer anderen Stelle zieht ein Satellit seine Bahnen. „Deine Erben“, raune ich der Skulptur zu. Irgendwo im dunklen Ländchen Rhinow bellt ein Hund.
Gegen 1 Uhr liege ich in meinem T4, schaue hinüber zur Scheune und warte auf eine Begegnung der dritten Art. Und wenn ich den Geist Lilienthals nun verpasse, weil ich vorher einschlafe? Sei’s drum – genau genommen schwirrte er ja schon den ganzen Tag um mich herum.
Meiko Haselhorst
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